Podcast            Nudging

 

Intro: freie Musik

 

Titel (Sprecher)

„Das ist ein Podcast der Initiative Gesundheit und Arbeit – kurz iga. Die iga beschäftigt sich mit wissenschaftlichen Erkenntnissen aus der Welt der betrieblichen Gesundheitsförderung und Prävention und bereitet diese für Praktikerinnen und Praktiker in den Betrieben auf.“

 

Start

Lindl:

Dieser Podcast widmet sich dem Phänomen der menschlichen Entscheidung und seiner sinnvollen Beeinflussung. Um Ihnen zu zeigen wovon wir sprechen, wenn wir über menschliche Denkfehler reden, stelle ich Ihnen eine Frage:

Merken Sie für sich die Antwort, die Ihnen zuerst in den Kopf kommt. Ein Baseballschläger und ein Ball kosten zusammen 1,10 Euro. Der Schläger kostet 1 Euro mehr als der Ball. Wie teuer ist der Ball? Wie lautet Ihre spontane Antwort? 10 Cent? So tippen die meisten Menschen und sie tippen falsch. Die richtige Antwort lautet 5 Cent. Nach kurzem Nachdenken wird klar warum.

Wenn der Ball 10 Cent kostet und der Schläger 1 Euro mehr (also 1,10 Euro), dann kosten beide zusammen 1,20 Euro. Daran wird deutlich, dass wir Menschen nicht immer rational und überlegt urteilen, sondern vielmehr automatisch und spontan entscheiden.

Diese automatischen Urteile bzw. Entscheidungen gehen sogar weiter: warum entscheiden sich Menschen oftmals gegen besseres Wissen und verhalten sich sogar gegen ihre ureigenen Interessen wie zum Bespiel ihre Gesundheit? Sie denken jetzt vielleicht, das passiert mir nicht. Ich sage da nur: Vorsicht vor dem inneren Schweinehund. Jeder weiß ja selbst am besten, wann man wieder lieber den Fahrstuhl statt die Treppe genommen hat oder der routinemäßige Zahnarzttermin schon wieder vergessen wurde zu terminieren. Und schon sind wir alle gemeinsam im Thema drin… warum nur entscheiden wir uns so oft gegen unsere eigenen Interessen und schädigen uns teilweise sogar damit? Und wie kann der Weg für gesunde Entscheidungen bereitet werden?

 

Sprecher: Wir führen Sie in dieser Folge durch das Thema Nudging im Kontext der Organisation von Gesundheit und Sicherheit in der Arbeitswelt.

Nudging ist dabei eine gezielte Einwirkung auf die menschliche Entscheidung. Darüber sprechen wir mit Titus Lindl. Er berät Unternehmen zu Führungsthemen, Motivation und Unternehmenskultur.

Und wir haben uns zwei Expertinnen zur Unterstützung geholt. Frau Prof. Pfannes und Frau Prof. Adam von der Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg. Beide lehren und forschen an der Fakultät Life Sciences, am Department Ökotrophologie.

 

Herr Lindl, Sie kommen in Ihrem Alltag regelmäßig an den Punkt, wo Führungspersonen versuchen, im Rahmen von unternehmerischen Veränderungsprozessen auch notwendige Verhaltensänderungen bei den Mitarbeitenden einzuleiten. Denn ohne dass diese die Veränderungen aktiv mitgehen, gibt es wohl keine nachhaltige Entwicklung, richtig?

 

Lindl: Das ist richtig. Ich finde es an diesem Punkt spannend zu verstehen, warum wir Menschen dieses Entscheidungsphänomen so häufig unbewusst erzeugen, und wie wir es besser machen können. Daher gehe ich für die heutige Betrachtung in die Perspektive der Arbeitswelt. Denn da sind Unternehmen mit gesundem und sicherheitsbewusstem Verhalten konfrontiert. Und das ist praktisch überall, wo es keine Regeln aus Prozessen gibt, sondern wo die freie und vor allem eigenverantwortliche Entscheidung der Angestellten notwendig ist.

Das Verstehen dieses Entscheidungsphänomens beginnt mit Selbstreflexion, denn hier lässt sich am leichtesten erkennen, wann und warum wir uns selbst im Alltag gegen besseres Wissen entscheiden. Und noch spannender ist es dann zu erkennen, wie wir dahin kommen, es wirklich besser zu machen.

 

Sprecher: Warum ist es für Unternehmen überhaupt wichtig, die Entscheidungen der Mitarbeitenden und ihr Verhalten im Kontext der Organisation von Gesundheit und Sicherheit zu verstehen?

 

Lindl: Weil es einerseits zu den Pflichten des Unternehmens gehört, Arbeitsbedingungen zu schaffen, die der Gesundheit und dem Wohlbefinden der Mitarbeitenden zuträglich sind. Sicherheitsfragen kann man anweisen, zum Beispiel durch Vorschriften zum Arbeitsschutz. Gesundheitsfragen obliegen der selbstverantwortlichen Entscheidung der Mitarbeitenden, sie sind hier durchaus frei, sich auch dagegen zu entscheiden. Daher lohnt es, sich um die besseren Entscheidungen des Einzelnen oder auch der Gruppe bei Gesundheitsfragen zu kümmern. Kümmern in dem Sinne, dass diese Entscheidungen durch bessere Angebote auf freiwilliger Basis von den Beteiligten getroffen werden. Und da kommt Nudging ins Spiel.

 

Sprecher: Nudging übersetzt sich mit „Anstupsen“ und meint nicht das erzieherische „Das macht man doch immer so“ oder das anordnende „Du musst das jetzt anders machen“. Sondern den kleinen Stups mit einem Richtungssinn hin zum möglichen Besseren „Du könntest es auch so machen“.

Wir sprechen heute darüber

-          warum es sich lohnt, die gesünderen Entscheidungen von Mitarbeitenden im betrieblichen Alltag zu unterstützen

-          und geben einen Einblick in die Konstruktion von Nudges.

 

Dafür wollen wir uns kurz dem Konzept widmen. Was ist der theoretische Hintergrund von Nudging, Herr Lindl?

 

Lindl: Für die wissenschaftliche Aufarbeitung der menschlichen Entscheidungsarchitektur und wie diese mit Nudging zum Besseren lenken kann, gab es 2017 den Nobelpreis für den amerikanischen Verhaltensökonom Richard Thaler, der mit seinem Kollegen, dem Juristen Cass Sunstein, 2008 in ihrem Buch „Nudge: improving decisions about health, wealth and happiness“ die Wirkweisen von Nudging veröffentlicht hat. Dabei greifen die beiden das Konzept des libertären Paternalismus auf. Dahinter steht die Legitimation zum Eingreifen beispielsweise von Institutionen in das Verhalten von Menschen, aber auch das hohe Gut der individuellen Handlungsfreiheit.

Es ist ein volkswirtschaftlich hoch relevantes Thema und wird ja bereits in vielen Bereichen der Gesellschaft eingesetzt. Zum Beispiel in der Politik – Angela Merkel hat ein eigenes Team, das sich mit dem „wirksamen“ Regieren beschäftigt - oder auch in der Werbung, die uns verführen will, wie wir mit Produktentscheidungen unser Leben vermeintlich verbessern könnten.

Und da lassen sich auch schon die Grenzen erkennen, wo die Einflussnahme auf Entscheidungen vom Anstupsen zur Manipulation übergeht. Wenn durch stimulierende Werbung Firmen einfach mehr verkaufen wollen und uns dazu verführen möchte, durch Nutzung ihrer Produkte uns vermeintlich zum besseren und gesünderem Lifestyle zu entscheiden. Ein schmaler Grat.

Gutes Nudging macht die Dinge dann richtig, wenn es ein erkennbares Angebot zum Wohl des Entscheidenden gibt und dabei auf Freiwilligkeit in der Entscheidung setzt. Nochmal Nudging ist also kein Ge- oder Verbot. Die autonome Entscheidung jedes Einzelnen soll bestehen bleiben.

Besonders in der heutigen Zeit, wo wir uns von behördlichen Vorschriften schnell auch bevormundet oder scheinbar unfrei fühlen (siehe auch die Proteste in der Corona-Krise), ist es nicht leicht, die „gute“ Entscheidung für den Einzelnen und die Gruppen auch erkennbar und attraktiv zu machen. Eine gute Entscheidung ist nach Thaler und Sunstein diejenige, die auf vollständigen Informationen beruht und vorausschauendes Denken mit einbezieht.

 

Sprecher: Ein guter Grund, dass wir das Phänomen der menschlichen Entscheidung noch näher beleuchten.

 

Betrachten wir mal das Phänomen der menschlichen Entscheidung näher, Frau Adam.

 

Frau Adam: Also die Annahme, dass Menschen ihre Entscheidung mehrheitlich bewusst auf Basis von vollständigen Informationen und zu ihrem Vorteil treffen, ist seit über 20 Jahren aus der Verhaltensökonomie widerlegt. Das menschliche Verhalten wird viel häufiger durch Gewohnheiten, Intuition und Umweltfaktoren gesteuert. Das sorgt dafür, dass wir des Öfteren nicht die eigentlich bessere Entscheidung wählen – und darin besteht der Gegensatz – sondern die ungünstigere Entscheidung zum Beispiel aus Gewohnheit treffen. Weil die Gewohnheit eine erneute Prüfung der Vor- und Nachteile einfach übergeht und dabei zur Belohnung eine Menge kognitiver Energie spart. Diese Einsparung setzt einen starken unbewussten Anreiz, dem wir gern nachgeben.

Auch sehr verführerisch ist die Entscheidung aus einem Impuls, vielleicht einem Bild, was uns gefällt und schnell triggert. Wir Menschen sind visuell gesteuert und so klappt das hervorragend mit appetitlichen Essens-Bildern: man kann wirklich ungesundes Essen so wunderbar fotografieren, dass man es ganz dringend haben möchte. Gelegentlich kein Problem, wenn häufiger - leider schlecht für die Gesundheit.

 

Dem Phänomen liegt wissenschaftlich zugrunde, dass wir Menschen in zwei mentalen Systemen denken und entscheiden: dem automatischen, dem intuitiven System und dem bewussten, dem reflektierten System. Die meisten, oft alltäglichen Entscheidungen, die unser Verhalten prägen, treffen wir aus dem intuitiven System, eben aus besagter Gewohnheit oder dem Impuls folgend. Die eingangs gestellte Frage zu den Kosten des Balls und die Antwort 10 Cent sind in diesem System getroffen. Oft sind es die alltäglichen Dinge, welche wir so entscheiden. Aber auch weitreichende Entscheidungen treffen wir gern mal aus Gewohnheit und ja, schön eingebettet in rationale Erwägungen. Immerhin treffen wir im Alltag circa 80% unserer Entscheidungen auf diese Weise und nur 20% rein rational. Und so ist unser Entscheidungssystem viel deutlicher dominiert von Gewohnheiten und Emotionen, als wir das selbst empfinden und steuern können.

 

Sprecher: Was können wir daraus für Entscheidungen die die Gesundheit betreffen mitnehmen?

 

Frau Pfannes: Nun, ganz einfach: wir neigen mehrheitlich gegenüber einer persönlichen Verhaltensänderung zur Trägheit, zum Aufschieben oder unterliegen sozialen Normen und persönlichen Fehleinschätzungen.

 

Zwei Alltagsbeispiele, die viele wohl kennen:

-          Wir arbeiten sitzend mit wenig Bewegung am Schreibtisch, nehmen am Morgen, zum Mittag und zum Feierabend aber oft lieber den Fahrstuhl in die dritte Etage anstatt die Treppe.

-          In der Kantine lächelt viele Menschen das Schnitzel mit Pommes in der Auslage ganz vorn an. Die Salatbar ganz hinten wurde schon wieder übersehen.

 

Das ist also das Phänomen der zweitbesten Entscheidung und Sie verstehen jetzt Herrn Lindls Hinweis vom energiesparenden Handeln… Die gesündere, bessere Entscheidung erscheint oft im Alltag anstrengender, also ist doch die gewohnheitsmäßige, vielleicht schlechtere Wahl attraktiver.

Nur wenige Menschen denken an die langfristigen Folgen ihrer ständigen Alltagsentscheidungen und werfen den langfristigen Blick in die Waagschale der Entscheidung. Es ist doch viel einfacher, das zu verdrängen.

Die richtige Lösung wäre hier im Beispiel die Treppe täglich als ein Konditionstraining einzubauen, bis sie eine alltägliche günstige Gewohnheit wird. Die einfache, aber bequeme Entscheidung ist der Fahrstuhl. Ernährungsumstellung, Integration von regelmäßigem Training wäre richtig. Das kostet den Abschied von bequemer Gewohnheit und ein mehr an Energie – nur für die Dauer der Umstellung, bis das neue zur Gewohnheit geworden ist.

 

Oft braucht es für eine Verhaltensänderung einen individuell gravierenden Auslöser wie eine Erkrankung oder das direkte Erleben von negativen Konsequenzen, um die benötigte Energie dafür aufzubringen. Die reine Selbstreflexion genügt eben oftmals nicht.

 

Sprecher: Die „iga. Initiative für Gesundheit und Arbeit“ hat das Thema hinsichtlich der Relevanz für die betriebliche Gesundheitsförderung in Unternehmen betrachtet. Denn Unternehmen haben eine Verantwortung für die Gesundheit und Sicherheit ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Ein Ansatz ist das Engagement für gesundes Verhalten und sicheres Arbeiten. Wie lassen sich Nudges also nutzen, Beschäftigte zum besseren individuellen Verhalten anzustupsen?

 

Frau Pfannes: Es ist so: die Menschen werden nicht als idealtypisch entscheidende Wesen betrachtet. Sondern es wird ihre Neigung zur Trägheit gegenüber einer persönlichen Verhaltensänderung sowie persönliche Fehleinschätzungen angenommen… Das ist im privaten Alltag nicht anders als in der Arbeit.

Angestellte treffen täglich intuitive Entscheidungen für oder gegen ihre Sicherheit und Gesundheit. Ziel erfolgreichen Nudgings ist es nun, die gesündere oder sicherere Entscheidung zur einfacheren Entscheidung zu machen.

 

Sprecher: Was bedeutet das für Prävention im Unternehmensalltag?

 

Frau Pfannes: Betriebliche Gesundheitsförderung hat das Anliegen, den Beschäftigten strukturelle Rahmenbedingungen für ein gesundes Arbeiten zu ermöglichen. Gesundheitsförderliche Strukturen betreffen zum Beispiel die Führungs- und Kommunikationskultur, eine bewegungsfreundliche Arbeitsumgebung, gesundheitsgerechte Verpflegungsangebote und die verhältnisbezogene Suchtprävention. Dabei geht die Verhältnisprävention mit der Verhaltensprävention Hand in Hand. Die Verhältnisprävention setzt mit Nudging bei betrieblichen, organisatorischen und sozialen Bedingungen an, sie verändert das Umfeld zugunsten einer besseren Entscheidung. Gleichzeitig wirkt Nudging als Verhaltensprävention auf den Einzelnen bzw. die Gruppe. Dies kann im privaten wie im betrieblichen Umfeld sein.

 

Lindl: Und so kümmern sich verantwortungsvolle Unternehmen nicht nur um optimale strukturelle Arbeitsbedingungen, sondern ermöglichen auch gesündere oder sichere Entscheidungen ihrer Beschäftigten. Und genau da kommt nun Nudging ins Spiel:  es setzt am physischen, sozialen und psychologischen Kontext der individuellen Entscheidungen an, um sie zu verbessern. Es geht also um die Gestaltung der Umgebung bzw. der Verhältnisse.

Nudging kann auch zur Befähigung führen, indem den Mitarbeitenden mit dem Nudge ein Impuls gegeben wird, die eigenen Bedürfnisse besser zu erkennen und situativ Verantwortung für die bessere Entscheidung zu übernehmen. Also Selbstbestimmung über die eigene Gesundheit statt Fremdbestimmung durch eine Anweisung.

 

Sprecher: Das bringt uns zu den Chancen von Nudging in der betrieblichen Gesundheitsförderung.  

 

Lindl: Das Unternehmen kann natürlich gesundheitsförderliche Entscheidungen der Beschäftigten zuerst aktiv durch Kommunikation versuchen zu lenken. Aber eine unmittelbare nicht direkt sichtbare Wirkung ergibt sich durch Nudging. Es bietet gesundheitsförderliche Wahlmöglichkeiten an und stupst gleichzeitig in die Richtung, dieses Angebot freiwillig zu nutzen und platziert die schlechtere Alternative nach hinten. Sie ist zwar noch da, ihre Auswahl wird aber aufwendiger gemacht und die Gewohnheit gebrochen.

Die verantwortliche Person wird an der Stelle Entscheidungsarchitekt*in und lotst die Beschäftigten zur besseren Entscheidung. Sie unterstützt durch die Anordnung oder Darbietung der Angebote dabei, individuelles Verhalten auch in der Arbeitsumgebung zu verbessern.

Als Beispiel kann das Angebot der gemeinsamen Fitnesspause in der Arbeitszeit direkt auf dem Flur oder die Bereitstellung von ausreichend Obst und Wasser genannt werden.

 

Sprecher: Wie gehe ich am besten vor, wenn ich einen Nudge einsetzen möchte?

 

Lindl: Es ist sinnvoll nicht nur einen einzelnen Nudge aus dem Bauch heraus zu kreieren, sondern ganzheitlich vorzugehen. Zur Hilfestellung dienen folgende 4 Schritte:

 

Handlungsleitfaden

Im ersten Schritt ist zu prüfen, was ist das gewünschte Zielverhalten (sollen die Beschäftigen in einer Abteilung zu mehr Bewegung angeregt werden oder soll der abteilungsübergreifende Austausch gefördert werden), welche personellen oder finanziellen Ressourcen werden dazu benötigt und wer kann es bzw. muss es machen?

 

Schritt 2 ist die Analyse des Entscheidungsprozesses. Das Verständnis, wie diese Entscheidungen getroffen werden, ist das Herzstück des Handlungsleitfadens. Je besser der Nudge auf den Entscheidungsprozess der Zielgruppen passt, umso effizienter ist die Maßnahme. Und dazu muss dieser Prozess zuerst analysiert und verstanden werden. Dazu werden die Zielgruppen, Kontextfaktoren, Optionen und Eigenschaften der Handlungsoptionen des Prozesses betrachtet. Nur eine eindeutige Erkenntnis des Entscheidungsprozesses ermöglicht die Konstruktion eines effizienten Nudges. Deshalb sollten an diesem Schritt die betroffenen Zielgruppen auch mitwirken z.B. in Form von Workshops, sonst läuft man Gefahr, die Intervention an diesen vorbei zu planen und wirkt dann auch noch intransparent. Das wäre die Anleitung zum Scheitern.

 

Schritt 3 - die Konstruktion konkreter Nudges – Wie will man die Entscheidungsarchitektur verändern? Dazu braucht es kreative Methoden und den Einsatz der Gestaltungsmodelle, um die Nudges stimmig auf die entscheidungsrelevanten Phasen des Prozesses zu entwickeln. Die psychologischen Mechanismen des Mindspace-Modells können hierbei gut eingesetzt werden (dazu kommen wir gleich), um den Nudge schon in seiner Konstruktion mit dem Ziel zu verbinden. Und um zu erkennen, ob die Verknüpfung von mehreren Nudges die Intervention effizienter macht, und das alles auf das Verhalten der Beteiligten abzugleichen.

 

Und zuletzt der vierte Schritt: die Implementierung und anschließende Zielüberprüfung. Dazu sollte die Umsetzung des Nudgings unter Einbeziehung aller relevanten betrieblichen Akteure geschehen. Der Erfolg der Intervention wird an ein Ziel geknüpft. Das lässt sich in einer repräsentativen Pilotgruppe vorab gut testen und optimieren. Danach lässt sich das Nudging auf die Gesamtheit der Zielgruppen umsetzen und man erkennt, ob sich das Ziel der gewünschten Verhaltensänderung einstellt und ob sie nachhaltig ist.

 

Die Chance in einem solchen Vorgehen besteht darin, die Arbeitsrealitäten besser zu verstehen, in denen die Beschäftigten arbeiten und nach zu vollziehen, warum bestimmte Entscheidungen in gewissen Situationen getroffen werden. Beispielsweise warum Sicherheitsvorkehrungen missachten werden.

 

Sprecher: Das ist der Prozess drum herum – aber was macht einen wirksamen Nudge aus?

 

Frau Adam: Wirksame Nudges führen zu einem günstigeren Verhalten. Es ist bekannt, dass Verhaltensänderungen unter anderem bestimmte Rahmenbedingungen erfordern:

-          Mach es E wie einfach, also leicht verständlich und ebenso leicht zugänglich. Denn Menschen bevorzugen einfache Entscheidungen.

-          Mach es A wie attraktiv in Botschaft und Anreizen, damit sich Mitarbeitende angesprochen fühlen.

-          Bette es S wie Sozial ein in bestehende Normen und Netzwerke, so entsteht ein sozialer Einfluss der Gruppe auf den Einzelnen.

-          Achte auf T wie gutes Timing zur Umsetzung, Menschen sind oft zeitinkonsistent bei Entscheidungen.

 

Wir haben ein E, ein A, ein S und ein T – das spricht sich EAST. Es lässt sich gut merken und noch besser umsetzen.

 

Sprecher: Worauf sollte man noch achten, für die Gestaltung guter Nudges?

 

Frau Pfannes:

Für die Umsetzung von Nudging-Maßnahmen ist es wichtig die Grundsätze nach Sunstein & Thaler zu beachten.

1.    Die freie Wahl muss erhalten bleiben.

2.    Der Nudge muss leicht zu umgehen sein.

3.    Die Gestaltung der Umgebung und der daraus resultierende Nudge muss ethisch vertretbar sein.

Das ist wichtig, um es von Marketing-Maßnahmen abzugrenzen.

 

Es ist zudem wichtig für die betrieblichen Akteure, sich klar zu machen, dass Entscheidungsarchitektur immer gestaltet wird – auch ohne Nudging. Die Idee des Nudging ist es, die günstigere Entscheidung zur einfacheren und bequemen Entscheidung zu machen.

 

Es lässt sich festhalten, dass der Ansatz des Nudgings auf den Erkenntnissen der Verhaltensökonomie, der Verhaltenspsychologie aber auch der Soziologie beruhen, die empirisch erforscht und dargelegt haben, wie menschliche Entscheidungen getroffen werden.

 

Frau Adam:

Auf Grundlage empirischer Erkenntnisse ist so eine Checkliste mit 9 Einflüssen auf das Verhalten entwickelt worden, die bei der Gestaltung von Maßnahmen für Verhaltensänderungen im Allgemeinen – unabhängig von Nudging – für die Verantwortlichen als Unterstützung dienen können. Diese Checkliste nennt sich MINDSPACE. Dieser Begriff ist ein Akronym – lassen Sie uns die einzelnen Buchstaben durchgehen und die Bedeutung am Beispiel einer betrieblichen Gesundheitsaktion verdeutlichen:

 

-          M für Messenger: Dies ist der Absender, der einen Einfluss nimmt

o   Personen die Im Kollegium geschätzt werden, stehen als „Role model“ für Themen z.B. für das richtige Heben und Tragen.

-          I für Incentive: der Anreiz, der unsere Reaktion motiviert

o   Die Gesundheitsangebote beispielsweise besser während der Arbeitszeit bereitstellen

-          N für Norm: Wir werden stark davon beeinflusst, was andere tun

o   Das kann die Information sein, wie viel Prozent des Kollegiums sich ein gesundheitsförderliches Essen wählen

-          D für Default: sozusagen „mit dem Strom schwimmen“, dies sind Standards oder auch voreingestellte Optionen

o   Alle Beschäftigten erhalten Termine für die Teilnahme an einem Präventionskurs, wer nicht gehen will, muss diesen aktiv abwählen

-          S für Salience: demnach, die Aufmerksamkeit auf Neues zu lenken

o   Poster, Ampeln und Smileys werden zur Aktion aufmerksamkeitsstark an Orten platziert, an denen Entscheidungen zu gesundem Verhalten zu fällen sind, z. B. in der Kantine

-          P für Priming: Unsere Handlungen werden oft von unbewussten Hinweisen beeinflusst

o   Den Snackautomaten abseits der üblichen Laufwege platzieren

-          A für Affect: durch emotionalen Assoziationen kann unser Handeln kraftvoll geprägt werden

o   Einsatz von Bildern, die Hygiene-Emotionen zum Händewaschen triggern

-          C für Commitment: das bedeutet, sich quasi öffentlich selbst zu verpflichten

o   Durch Teilnahme im Team an Schrittzählwettbewerb und der öffentlichen Angabe täglich 10.000 Schritte zu machen, binden wir uns selbst

-          E für Ego: Wir handeln auf eine Weise, die uns ein besseres Selbstwertgefühl gibt

 

Je nach Umsetzungsprinzip vereinen sich dann noch besonders viele der Einflüsse auf das Verhalten.

 

Nudging kann als ein Instrument genutzt werden, um Verhaltensänderungen anzustupsen. Die Checkliste MINDSPACE kann zur Unterstützung bei der Entwicklung von Maßnahmen zur Verhaltensänderung dienen.

 

Sprecher: Wie kann man das nun alles im Kontext der Arbeitswelt bei der Gestaltung von guten Nudges berücksichtigen, nach welchen Kriterien geht man vor?

 

Lindl: Man baut ja keine Nudges zur Unterhaltung der Mitarbeitenden, sondern konzipiert mit Nudges eine Verhaltens- oder Verhältnisänderung, zumeist aus dem Druck, etwas zum Besseren verändern zu wollen. Also prüft man folgende 6 Kriterien:

 

1.    sind die Prinzipien der Prävention und betrieblichen Gesundheitsförderung berücksichtigt? (nochmal: Topkriterium ist eine Verbesserung für die Beschäftigten)

2.    Ist die Art der Verhaltensänderung vorhersehbar (also ich weiß was sich verändern soll)

3.    Sind keine Optionen ausgeschlossen? (die alternativen Optionen bleiben bestehen)

4.    Bleibt die Entscheidungsfreiheit des Individuums bestehen? (also Wahlfreiheit statt Verbote)

5.    Die neue Alternative ist leicht zu umgehen? (man kann sich dagegen entscheiden und benötigt zur Umgehung wenig Aufwand)

6.    Es besteht Transparenz zu den Mitarbeitenden? (über Anwendung der Nudges und Ziele)

 

Lindl weiter: Das Gegenteil guter Nudges sind Gebote oder Verbote durch das Unternehmen. Diese lassen den Mitarbeitenden keinen Spielraum für bessere Entscheidungen und schränken ihre Individualität ein. Das führt zu Irritationen und erzeugt Ablehnung statt besseren Verhaltens. Und es beschädigt die Erfahrung der Angestellten mit dem Unternehmen, die sogenannte Employer Experience.

 

Ich gebe ein Beispiel für ein gutes Nudging-Konzept, denn es wurden auf Grundlage einer Zielüberlegung gleich mehrere Wirkmechanismen durch Nudges gemäß dem MINDSPACE-Modell verwendet:

 

Die Situation:

Ein Softwareunternehmen mit 250 Beschäftigten im Innen und Außendienst will die Bewegungsaktivitäten der Angestellten in der Firma erhöhen, um die körperliche und geistige Fitness in der Gruppe zu steigern. Das ist das Ziel.

 

Die Lösung:

Es wird ein Nudging-Konzept kreiert, das spielerische Anreize setzt: durch Gamification. Es wird ein Schrittzählwettbewerb angeboten, bei dem Mitarbeitenden in Teams antreten und gegeneinander imaginäre Strecken laufen.

 

Die Umsetzung:

-          Bei einer Auftaktveranstaltung erhalten die Teams ihre Schrittzähler und werden damit gut ausgerüstet und motiviert – das ist der Wirkmechanismus Anreiz.

-          Eine sportbegeisterte Person aus dem Vorstand stellt die Aktion vor und beteiligt sich aktiv während der ganzen Durchführung der Aktion. Damit kommt der Vorstand als kompetenter Absender ins Spiel, als Messenger.

-          Der Wettbewerbscharakter wird durch die Ankündigung der Siegerehrung bei der Betriebsfeier verstärkt. Das füttert die Egos der Teilnehmenden.

-          Dann startet der Wettbewerb und die Schritte im Alltag werden gezählt.

-          Besprechungen werden nun im Stehen oder bei Spaziergängen gemacht, was für Gesprächsstoff in der Firma sorgt und alle Nichtteilnehmenden neugierig macht (Meetings im Sitzen werden zur Ausnahme) – hier greift der Mechanismus „soziale Norm“.

-          Vor den Aufzügen werden Plakate angebracht, welche auf die Aktion hinweisen, auf den Treppen werden Fußabdrücke aufgeklebt, welche erbrachte Höhenmeter aufzeigen und den Vergleich zur Besteigung des Mount Everest bringen – das macht die Aktion salient, praktisch unübersehbar und die Aufmerksamkeit steigt

o   Jeder kann es schaffen, seinen eigenen Mount Everest zu erklimmen - in drei Monaten, einem halben Jahr oder eben länger

o   je nachdem wie häufig er die Treppe nutzt. Denn 3 Stockwerke sind 16 Meter oder 100 Stufen

o   Und je nachdem, wie oft man die Treppe nimmt, erklimmt man seinen Gipfel entweder in 550 Tagen – wenn man täglich nur einmal die Treppe steigt oder eben schneller

o   Wer seine 3 Stockwerke täglich 5-mal schafft – und das ist realistisch – schafft es schon in 110 Tagen auf den Gipfel des Mount Everest. Nicht schlecht, oder?

o   Stellen Sie sich vor, das Kollegium macht sich einen Sport daraus und besteigt also (mehr oder weniger gemeinsam) 3 bis 4-mal jährlich den Mount Everest – das schafft das gute Gefühl, gemeinsam etwas Großes schaffen zu können

o   das macht stolz und dieses Gefühl hält Einzug in die Unternehmenskultur, genau was ja das Ziel war

Die Teams finden sich darüber zusammen und lernen sich besser kennen. Sie motivieren sich und tauschen sich über Chats aus und haben ein gemeinsames Erleben. Dadurch entsteht ein neues Commitment.  

 

Wirksamkeit:

Die Teilnahmequote ging hier auf 75% und manche Teilnehmenden machten weiter auch nach Ende des Wettbewerbs. Zahlreiche Wirkmechanismen aus dem Mindspace-Modell greifen hier ineinander und produzieren trotzdem eine Leichtigkeit in der Anwendung der Nudges – durch die Gamification.

 

Auswertung der Vorteile:

-          Geringer Zeitaufwand und hohe Teilnahmequote

-          Es entsteht positiver Gesprächsstoff und ein neues WIR-Gefühl

-          Angebot ist niederschwellig, jeder kann teilnehmen

 

Als Nachteile wären folgende zu nennen:

…es war leider ein einmaliges Event, was die Mitarbeitenden am meisten bedauerten

…etwas Teilnahmedruck entstand durch den Wettbewerbscharakter dann schon

…einige Kosten sind für die Anschaffung der Schrittzähler und der Plakatierung entstanden

 

Über die reine Bewegungsförderung kann eine solche Aktion ein Start sein für neue Gruppendynamik in den Teams, ein besseres sich-kennen-lernen und setzt neue Standards der Selbstvergewisserung, der Leistungsfähigkeit im Miteinander.  

 

Frau Adam: Ich möchte da anschließen und zusammenfassen, wie sich Nudges zur Förderung einer gesundheitsförderlichen Ernährung gut einsetzen lassen.

1.    Nudging in der Kantine:

Auf die Präsentation von Lebensmitteln achten, zum Beispiel:

a.    Gesunde Snacks werden weiter vorn in den Laufwegen attraktiv präsentiert

b.    Es werden Standardkombinationen verändert, zum Beispiel Burger mit Salat statt Pommes – dies ist dann übrigens die Default-Option

c.    An der Kasse wird Obst attraktiv präsentiert

d.    Vegetarische Gerichte werden in der ersten Ausgabetheke ansprechend präsentiert

e.    Das Wasser oder andere kalorienarme Getränke – wie z.B. Saftschorlen – werden auf Augenhöhe und leicht erreichbar platziert

2.    Die Gestaltung von Informationen optimieren, d.h. das Handeln wird unbewusst durch bestimmte Hinweise beeinflusst – das nennt man auch Priming; einige Beispiele sind:

a.    Ampelfarben kennzeichnen die Inhaltsstoffe von Lebensmitteln

b.    Gesunde Lebensmittel werden sichtbarer durch zum Beispiel grüne Banderolen

c.    die Kantine wird mit attraktiven Bildern von Obst und Gemüse dekoriert

d.    Die Ausgabe von vegetarischen Gerichten wird besonders – zum Beispiel mit einem Hinweisschild – gekennzeichnet

3.    Durch Veränderung von Größe und Menge an Essen den Kalorienverzehr heruntersetzen, zum Beispiel

a.    Es werden verschiedene Portionsgrößen angeboten

b.    Es werden verschiedene Tellergrößen angeboten

 

Frau Pfannes: Nudges lassen sich generell durch die Änderung der Umgebung schaffen.

 

Hierzu ein Beispiel:

Beschäftigte in einem Produktionsbetrieb legen die Schutzbekleidung trotz bestehender Vorschrift nur unzureichend an. Daher wird die Umgestaltung des Umkleideraums als Nudge konzipiert.

-          Bisher mussten die Einzelteile der Schutzbekleidung aus unterschiedlichen Boxen an unterschiedlichen Stellen im Raum zusammengestellt werden. Da konnte man schon mal was vergessen zu holen.

-          Durch die Umgestaltung werden die Boxen mit der darin befindlichen Schutzbekleidung nun so nebeneinander platziert, dass ihre Reihenfolge der Logik des Anziehens auf dem Weg zur Arbeit entspricht.

-          Somit lässt sich die Reihenfolge des Anziehens leichter erkennen und umsetzen, ebenso die Vollständigkeit. Die Platzierung eines Bildes der vollständigen Schutzkleidung und daneben ein Spiegel am Ausgang des Raumes ermöglicht einen visuellen Vergleich.

 

Die Änderung der Verhältnisse zur Vereinfachung der Bereitstellung der Schutzkleidung kann zum gewünschten Verhalten anstupsen.

Das Übergehen eines Bestandteils der Schutzkleidung erfordert eine aktive Auslassung und wird eher bemerkt.

 

Sprecher: Was lässt sich aus dem Thema Nudging im Kontext der Gesundheit in der Arbeitswelt nun für die praktische Arbeit in Betrieben lernen und mitnehmen?

 

Frau Pfannes: Wir können im Arbeitsalltag Entscheidungen für ein gesünderes oder sicheres Verhalten anstupsen.

Wenn wir es schaffen, die Umgebung so zu gestalten, dass die gesündere bzw. sicherere Entscheidung die bequemere Entscheidung ist, dann wurden die Nudging-Maßnahmen erfolgreich umgesetzt. Dadurch, dass das intuitive System für die Entscheidungsfindung angesprochen wird, ist keine Anstrengung für den Entscheidungsprozess notwendig.

Es braucht also nur einen kleinen Stups in die richtige Richtung und die bessere Entscheidung liegt ganz nahe.

 

Und dabei bietet Nudging eine einfache Möglichkeit für Betriebe, Menschen bei ihren unbewussten Entscheidungen anzustupsen, so lassen sich ungünstige Gewohnheiten durchbrechen. Und wer weiß, vielleicht wird über die regelmäßige Anwendung des Nudges aus dem Impuls wieder eine neue, bessere Gewohnheit?

 

Lindl: Ja dann nehmen wir doch diese Gedanken mit in den persönlichen Alltag wie auch in den Arbeitsalltag und prüfen, wie wir die „guten“ Optionen einfacher und attraktiver gestalten können und damit den Weg für gesunde Entscheidungen bereiten.

 

Sprecher:

In diesem Sinne wünscht iga und unsere Expert*innen viel Erfolg bei der Konstruktion und dem Ausprobieren von Nudges für gesunde und sichere Entscheidungen. Dafür haben wir Ihnen entsprechende Checklisten und Leitfaden inklusive Praxistipps auf www.iga-info.de zusammengestellt. Geben Sie dort einfach den Suchgriff Podcast oder Nudging ein.

 

Outro Musik